Fußball

"Das darf nicht passieren" Vier Minuten des Wahnsinns stürzen BVB aus dem Rausch in die Fassungslosigkeit

Fassungslosigkeit.

Fassungslosigkeit.

(Foto: IMAGO/LaPresse)

Borussia Dortmund liefert eine historische Champions-League-Halbzeit: Viermal trifft der Bundesligist in 45 Minuten gegen Juventus Turin - doch am Ende steht der Schmerz.

Was war das für ein denkwürdiger Europapokalabend, den Borussia Dortmund und Juventus Turin da auf den Rasen des Juventus Stadiums gezaubert haben: 45 Minuten lang neutralisieren sich beide Teams weitestgehend, dann brechen nach der Halbzeit alle Dämme! Der Bundesligist berauscht sich an sich selbst, schießt Tor um Tor. Karim Adeyemi eröffnet das wilde Wettschießen in der 52. Minute mit dem 1:0, später treffen vor 41.497 Zuschauern noch Felix Nmecha (65.), Yan Couto (74.) und Karm Bensebaini (86./Handelfmeter) für den Bundesligisten. Kenan Yildiz (63.), Dusan Vlahović (68.) können für den italienischen Rekordmeister zweimal nachziehen.

Doch nach 93 Minuten muss Dortmunds Verteidiger Bensebaini nahe der eigenen Eckfahne den Ball nur noch wegdreschen, um die schwarz-weißen Tifosi und ihr Team endgültig schlafen zu schicken, da steht es noch 4:2. Doch der Tunesier schiebt den Ball einem Gegenspieler in die Füße - und in den folgenden kaum 180 Sekunden geht alles den Bach runter. Vlahovic verwandelt Bensebainis Schusselei in Hoffnung, Lloyd Kelly (90.+6) lässt Juventus eskalieren. Der BVB kollabiert noch auf dem Platz. Der Rausch, der so nahe große Sieg löst sich auf. Übrig bleibt Fassungslosigkeit: 4:4 steht am Ende auf der Anzeigetafel. Ein Punkt bleibt ihnen und die große Frage: Wie konnte das passieren? Beantwortet werden kann sie noch nicht so schnell.

"Das ist das, was wehtut"

"Dieses Spiel müssen wir zu 100 Prozent gewinnen", sagte Torschütze Karim Adeyemi bei Amazon Prime Video, der in der 52. Minute zum 1:0 getroffen hatte. "Am Schluss sind wir 4:2 vorne und wir müssen das nach Hause bringen, ganz einfach. Dann sind wir auch alle glücklich." Trainer Niko Kovac sagte: "Was nicht gut war, sind die letzten vier Minuten. Das ist das, was weh tut. Man darf auf dem Niveau keine Fehler machen. Ich sage nicht umsonst, hinten gibt es keine Playzones. Gerade wenn es dann in die Nachspielzeit geht, darf der Ball nicht mehr im Spiel sein. Da darf nichts mehr passieren."

Die zwei verlorenen Punkte kosten den BVB 1,4 Millionen Euro an Prämien der UEFA, doch im engen Ringen um den Einzug in die K.o.-Runde könnte der 4-Minuten-Blackout doppelt teuer werden. "Die Konkurrenz ist so groß in diesem Wettbewerb, es ist wichtig, dass wir gut reinstarten", hatte Kovac vor dem Spiel bei Amazon Prime Video gesagt.

Torwart Gregor Kobel, der zuvor noch mit einer fantastischen Parade gegen Yildiz das 3:3 verhindert hatte, schimpfte: "Wir sind sicher brutal enttäuscht. Wir müssen das Spiel gewinnen und dürfen nicht am Ende zwei Gegentore kassieren. Das darf uns nicht passieren, dass wir am Ende Unentschieden spielen, nachdem wir eigentlich so ein geiles Spiel gemacht haben und drei wichtige Punkte hätten einfahren können. Ich bin angepisst nach dem Spiel." Torschütze Felix Nmecha findet alles "schon sehr ärgerlich. Wir haben so hart gearbeitet und dann am Ende so die zwei Tore zu kassieren ist schon bitter. [...] Dieses Gefühl am Ende nervt."

Juventus Turin - Borussia Dortmund 4:4 (0:0)

Turin: Di Gregorio - Kalulu, Bremer, Kelly - McKennie (60. Joao Mario), Thuram, Koopmeiners (69. Locatelli), Cambiaso - David (60. Vlahovic), Yildiz (87. Zhegrova) - Openda (69. Adzic). - Trainer: Tudor
Dortmund: Kobel - Ryerson, Anton, Bensebaini - Couto, Sabitzer, Nmecha (71. Bellingham), Svensson - Adeyemi, Beier (71. Brandt) - Guirassy (90. Groß). - Trainer: Kovac
Schiedsrichter: Francois Letexier (Frankreich)
Tore: 0:1 Adeyemi (52.), 1:1 Yildiz (63.), 1:2 Nmecha (65.), 2:2 Vlahovic (67.), 2:3 Couto (74.), 2:4 Bensebaini (86., Handelfmeter), 3:4 Vlahovic (90+4.), 4:4 Kelly (90+6.)
Gelbe Karte: Anton
Zuschauer: 41.497

Es wäre ein Statement-Sieg gewesen. Nicht nur das Ergebnis alleine, sondern auch die Art und Weise: Der BVB präsentierte sich in der zweiten Hälfte nicht immer brillant, aber jederzeit wehrhaft. Resilient auf höchstem Niveau, Herausforderung um Herausforderung arbeitete man weg, auf den Rängen waren sie außer Rand und Band. Sogar einen Streit am Elfmeterpunkt zwischen Ramy Bensebaini und dem torsüchtigen Serhou Guirassy hatten sie schadlos überstanden.

Anders als am dunklen 27. Mai 2023, als sich der unglückliche Sebastien Haller auf dem Weg zur sicher geglaubten Meisterschaft im Bundesliga-Finale gegen Mainz 05 gegen alle Absprachen den Ball zum Strafstoß schnappte, verschoss und damit das größte Trauma der jüngeren Klubgeschichte maßgeblich auf den Weg brachte. Damals traf der FC Bayern den BVB mal wieder ins Herz und schnappte den Titel weg, diesmal waren es "nur" zwei Punkte. Trotzdem.

"Was für ein Herz"

Juventus-Trainer Igor Tudor verkündete, man sei "in der zweiten Halbzeit erschöpft" gewesen, "aber was für ein Herz ...". Nie zuvor waren in einem Champions-League-Spiel mehr Tore in einer Halbzeit gefallen, die zweiten 45 Minuten dieses Duells sind ein Monument des schönen Fußballs. Man wird sich noch lange daran erinnern, so wie das legendäre 4:4, das der HSV 2000 bei Juventus Turin erkämpft hatte, tief im kollektiven Gedächtnis des deutschen Fußballs verankert sind. Erinnert wird das Spektakel als Sternstunde, obwohl auch der damals noch ruhmreiche HSV ganz spät den Ausgleich kassierte.

Doch die Erinnerungen, die der BVB mit nach Hause nimmt, sind völlig unnötig tief getrübt. "Wenn man das Spiel in den letzten zwei, drei Minuten auf diese Art und Weise in Anführungszeichen ‚verliert‘, dann fühlt man sich emotional niedergeschlagen", lässt sich Sportdirektor Sebastian Kehl nach dem "unfassbaren Spiel" in die Seele schauen. "Gleichwohl werden wir trotzdem morgen aufwachen und werden natürlich trotzdem einen Punkt geholt haben gegen Juventus Turin. Und das ist am Ende hier in diesem Stadion und gegen diese Mannschaft auch etwas, was uns helfen wird, um unsere Ziele zu erreichen. Aber gleichwohl weiß ich auch, dass hier drei Punkte durchaus drin gewesen wären. Ich werde das Spiel noch lange im Gedächtnis behalten, und dennoch werden wir viele positive Dinge mitnehmen." Wieder einmal zeigt der BVB: Im Fußball geht es nicht nur um Erfolge, denkwürdig ist auch der Schmerz.

Quelle: ntv.de, ter

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